Meinung: OS X Lion – ein Schritt nach vorn. Aber nur einer.

Stefan Keller, den 27. Juli 2011

Eine Woche ist es nun her, dass Apple OS X Lion im Mac App Store veröffentlicht hat. Eine Woche der produktiven Arbeit für mich mit dem Löwen. Dabei stellten sich schon früh Vorteile neuer Features als Besonderheiten heraus, wenn es auch nicht jene waren, mit denen Apple gerne wirbt. Zeit für eine Zwischenbilanz.

Um es gleich vorweg zu sagen: Dieser Artikel ist vollständig subjektiv. Es geht um meine (überschaubare) Mac-Collection bestehend aus Late-2009-iMac und Early-2011-MacBook-Pro. Ein Testbericht wird es daher eher nicht, aber doch die Schilderung meiner Eindrücke.

Vorgeschichte

Fangen wir chronologisch korrekt beim MacBook Pro an. Es ist das Sandy-Bridge-Modell von Anfang 2011, das seit Ende März in Betrieb ist und als Schreibmaschine für unterwegs dient. Viele Programme sind nicht drauf und wer die Live-Mitschrift lesen möchte, fühle sich auf den Erfahrungsbericht verwiesen. Probleme gab es keine bei der Installation und nachdem Java installiert war, liefen auch alle Programme mehr oder weniger problemlos – Ausnahmen wie TotalFinder lieferten zeitnah ein Update nach (wobei TotalFinder nicht „unbenutzbar“ war, ehrlich gesagt waren mir die Lion-Probleme gar nicht aufgefallen). Mit Firefox (ohnehin schon) und Eclipse (wegen Java) habe ich jedoch zwei relativ speicherintensive Programme quasi permanent geöffnet – und hier zeigt der Löwe seine Zähne: 4 GB reichen durchaus, aber nicht so weit wie unter Snow Leopard.

Ähnliches Bild ein paar Stunden später beim iMac (Late 2009, 21,5″, 12 GB RAM, ansonsten die kleinste Ausgabe, also mit Core 2 Duo 3,06 GHz). Das Update dauerte gefühlt ein wenig länger, vor allem aber hat der erste Start ganz schön genervt. Der Begriff „holprig“ ist da noch geschmeichelt – Caches alle leer, Spotlight-Index muss neu erstellt werden (und das dauert bei 500 GB intern, 2 TB Time Machine und 500 GB für Medien). Problematisch war zu diesem Zeitpunkt etwas, das bei Snow Leopard nicht der Fall war: Die Omnipräsenz des Beachball-of-Doom. So ziemlich jeder Klick hatte während der gesamten Re-Indizierungsphase den Anwendung-reagiert-nicht-Mauszeiger zur Folge. Der größte „Fehler“ war jedoch, tollkühn Mail aufzurufen. Nicht ganz 50.000 Mails hat das arme Programm über mehrere E-Mail-Accounts hinweg zu verwalten – und diese mussten in das neue Format konvertiert werden. Dass die Spotlight-Suche immer noch mit dem Index beschäftigt war, hat den Vorgang nicht gerade beschleunigt.

Doch als das alles überstanden und die ohnehin nicht sichtbare Sonne untergegangen war, zeigte der Löwe, warum er im englischen Sprachgebrauch der „König des Dschungels“ genannt wird: Er ist sehr, sehr schnell. Ob es durch die vielen, neuen Animationen nur so wirkt, oder man den Benchmarks aus Steam & Co. tatsächlich glauben kann, weiß ich nicht sicher, aber Lion fühlt sich richtig gut an. Vor allem bei Programmstarts scheint Apple etwas Grundlegendes optimiert zu haben. Die richtige Überraschung war für mich aber iTunes 10.4, das in der Lion-Ausgabe eine 64-Bit-Cocoa-App wurde und vermutlich deshalb ebenfalls massiv an Tempo zugelegt hat. Nicht zu vergessen der Safari – ich mag ihn zwar nach wie vor nicht, aber flink ist er.

Neue Features, die begeistern

Man soll mit dem Positiven anfangen, so tue ich das. Der Finder! Der kommt ja bekanntermaßen aus der gleichen Hölle wie iTunes, aber in Lion wurde er erheblich verbessert. Endlich, endlich, ENDLICH! kann man Ordner ergänzen statt sie nur zu ersetzen! Auch markierte Dateien in einen neuen Ordner zu verschieben, gefällt gut, wobei Apple hierbei mal wieder das „Think different“ ausgepackt hat: Nützlich wäre diese Funktion schon bei einer Datei gewesen, es braucht jedoch mindestens zwei, damit sie im Kontextmenü erscheint. Und ganz wichtig: Bislang ist der Finder noch nicht beim Auswerfen von USB-Sticks abgestürzt – ein weiterer Fortschritt in die richtige Richtung. Mission Control weiß ebenfalls sehr gut zu gefallen, aber irgendwie nur auf dem MacBook Pro, dazu später mehr. Richtig gut gefällt mir Mail. Auf die Gefahr hin, als Evolutionsbremse hingestellt zu werden, zwar nur in der klassischen Ansicht, aber die Zusammenfassung der Konversationen (und vor allem das Ausblenden der Full-Quotes am Ende von Mails), ist eine richtig praktische Sache, für die sich auch die fast 2 Stunden Wartezeit für die Konvertierung gelohnt haben.

In der Theorie würde mir „Versions“ sicher gleichfalls gut gefallen, jedoch scheint das nur für Auto-Save genutzt zu werden und diese Funktion muss ich leider eine Kategorie tiefer einordnen.

Neue Features, die nerven

Richtig furchtbar finde ich das „natürliche Scrollen“. Vielleicht bin ich einfach schon zu lange mit Mausrad und Multitouch-Gesten zu Gange, aber die umgekehrte Scrollrichtung und ich werden keine Freunde mehr. Glücklicherweise ist diese Eigenschaft abstellbar. Ebenso bin ich kein Anhänger der großen, neuen Features, die Apple bewirbt, weil ich denke, dass sie falsch implementiert wurden. Resume beispielsweise: Wäre eine tolle Sache (wenn die Apps angepasst sind) für den Zweck, für den er beworben wird – dass man neu starten muss. Wenn allerdings Vorschau nach dem reflexartigen Cmd+Q beendet und für ein anderes Bild wieder gestartet wird, dann nervt es mich ganz schön, dass die 20 anderen Screenshots, die mir bestimmte Personen via Skype zuschickten, neu geöffnet werden. Immerhin ist Cmd+Q eine bewusste Aktion.

In die gleiche Kerbe schlägt leider Auto-Save. Natürlich ist es in iOS praktisch, dass man sich um nichts kümmern muss, aber so ein Mac ist kein iOS. Wenn ich mir beispielsweise ein Bild anschauen möchte und es ggf. drehen muss, das Original aber behalten will, muss ich es erst vor Veränderungen schützen. Wenn ich nicht daran denke, wird das Original mit der gedrehten Version überschrieben – Abhilfe schafft Versions, aber das fällt dann wieder in die Kategorie „umständlich“.

Irgendwie müsste hier auch noch das Phänomen Vollbild-Modus erwähnt werden, aber das dürfte Geschmacksache sein und was mich daran stört, lest ihr einen Absatz tiefer.

Und was soll dieses Launchpad eigentlich? Das hätte Apple meiner Meinung nach lieber in den Finder integriert (im Applications-Ordner) – denn ich brauche es so von der Sache her nicht, Parallels hat mit den Windows-Programmen Launchpad über mehrere Seiten hinweg gefüllt, aber dennoch wird es gebraucht, um Apps aus dem Mac App Store sauber zu löschen. Das wäre auch in einem Finder-Fenster gegangen! (Programme suche ich ohnehin via Spotlight – Cmd+Space, „Aktivi“, Enter und die Aktivitätsanzeige startet. Schneller ginge das allenfalls übers Dock.)

Mehrbildschirmkonfigurationen

So, Apple! Etwas, das früher schon genervt hat, aber durch die neuen Features noch mehr auffällt. Warum denkt eigentlich nie jemand an Mehrbildschirmkonfigurationen? Beispielsweise der Vollbildmodus – gut und schön (also, ich finde den in der Regel albern, z. B. für Mail oder iTunes, aber wer’s braucht…), aber warum wird der zweite Bildschirm mit der Jeanshose geschmückt und hat ansonsten keine Verwendung mehr? Oder Mission Control. Warum muss man die virtuellen Desktops so behandeln, als gehörten die beiden Bildschirme zusammen? Das können die meisten Programme ohnehin nicht, weshalb der zweite Bildschirm bei mir (und vielen anderen, die ich kenne) für mehr oder weniger statische Dinge genutzt wird: Mail, Skype, Kalender, Twitter. Apropos Mission Control. Warum kann ich Desktops eigentlich nicht umbenennen? Auf dem MacBook Pro entfällt das Problem mit den zwei Bildschirmen, da habe ich einen Desktop für „alles mögliche“ und einen für „Entwicklungsarbeiten“. Bei zwei Desktops mag das noch gehen, der Ordnung halber hätte ich ihnen dennoch gern Namen gegeben.

Einschlafende, externe Festplatten

Ich habe zwei externe Festplatten. Eine kümmert sich um Time Machine und eine um Medien aller Art. Beide haben in ihrem SATA-to-USB-Controller fest verdrahtet, dass sie bei Inaktivität einschlafen. In Snow Leopard war es nun so, dass sie, in der Regel gleichzeitig, aufwachten, wenn sie gebraucht wurden: Oft (aber nicht immer) bei Öffnen- und Speichern-Dialogen, spätestens aber wenn Daten gebraucht wurden. Das dauert zwischen 5 und 15 Sekunden je nach Festplatte. In Lion allerdings scheint das Verhalten geändert worden zu sein. Für jede Kleinigkeit werden beide Festplatten, nacheinander(!) hochgefahren – sei es ein Bild, das in Vorschau geöffnet werden soll oder der Mac App Store. Da aber das alles auf der internen Festplatte gespeichert ist, gibt es hierfür im Grunde keine sinnvolle Erklärung – vor allem, warum, wenn sie schon beide anlaufen müssen, sie nacheinander geweckt werden. Dass derweil der Beachball-of-Doom seine Kreise dreht, muss wohl nicht extra erwähnt werden. Diese „Funktion“ ist wohl das größte Ärgernis bislang an Lion, weil sie den Workflow in aller Regelmäßigkeit unterbricht.

Mac App Store: Fluch und Segen

Der Mac App Store sei die einfachste und spannendste Möglichkeit, neue Programme kennenzulernen, sagt Apple. Dem stimme ich (inzwischen) weitestgehend zu, was daran liegt, dass man Programme, die es verdient haben, unterstützt zu werden, bequem mithilfe von iTunes-Karten kaufen kann, ohne Kreditkarte. Außerdem ist die Geschichte mit den Updates ziemlich bequem, wenngleich es noch viel besser wäre, wenn dem App Store von allein die Idee käme, hin und wieder mal nach Updates zu fahnden, anstelle nur auf Zuruf. Aber der App Store ist zu langsam. Die Mühlen der Apple-Bürokratie, die ich grundsätzlich für durchaus nützlich halte, mahlen zu langsam. Bestes Beispiel: Transmit . Der Hammer von einem FTP-Programm – wenn auch nicht ganz billig, aber durchaus sein Geld wert. Leider haben sich ein paar Probleme im Zusammenhang mit Lion ergeben und genau daran sieht der geneigte Anwender, was am Mac App Store nicht stimmt. Version 4.1.6 war der Lion-Release, das grundsätzliche Kompatibilität schuf, allerdings ist die Funktion der FTP-Mounts (damit FTP-Verbindungen im Finder genutzt werden können) kaputt gegangen. Am 21. Juli wurde dafür Version 4.1.7 nachgeschoben, die das behebt – im Mac App Store lässt dieses Update nach wie vor auf sich warten, ärgerlich.

Fazit

Allein der Finder, Mail und das allgemeine Arbeitstempo rechtfertigen das Update auf Lion ungemein. Ich habe zwar viel gemeckert in den obigen Zeilen, aber – und jetzt werde ich den Zorn der Fanboys auf mich ziehen – ich finde, mit Lion ist es wie mit Vista. Die Richtung stimmt, Snow Leopard wirkt nach dem Update staubig und das allgemeine Feeling ist ein sehr gutes. Das Arbeiten mit dem Löwen macht schon richtig Spaß und für eine „Punkt null“-Version läuft Lion erstaunlich rund und stabil. Das allerdings schließt bei Weitem nicht aus, dass Apple noch eine Menge Arbeit vor sich hat – vielleicht wird ja noch ein White Lion nachgeschoben. Wäre dies ein Testbericht, wäre ich durchaus geneigt, 4,5 von 5 Löwen Macs zu vergeben – der Snow Leopard hätte zum Vergleich 3,5 bekommen. Schon mal, weil er bei mir langsamer war als Leopard. Und weil der Finder quasi keine längst überfälligen Funktionen spendiert bekam (und die Umwandlung nach Cocoa interessiert mich als Anwender nur sehr peripher).

Nicht in Betracht ziehe ich die vielen teils katastrophalen Zustände, von denen im Mac App Store berichtet wird (Lüfter dauerhaft hörbar, Akkulaufzeit nur noch 2 Stunden usw.) – ganz einfach, weil ich davon nicht betroffen bin, und, wie gesagt, es sich um eine absolut subjektive Einschätzung handelt.


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